Sozialwissenschaftler und IT-Experten haben mit einer neuen Analyse die Debatte über das Dark Net und die davon ausgehenden gesellschaftlichen Folgen wieder hoch kochen lassen. Danach ist die “gute” und die “schlechte” Nutzung des Anonymisierungsnetzwerk Tor (The Onion Router) weltweit ungleichmäßig verteilt. Sie variiert auch je nach den politischen Bedingungen in einem Land systematisch.
Nach der am Montag im Fachjournal PNAS veröffentlichten Analyse sind im Landesdurchschnitt täglich 6,7 Prozent der Tor-Nutzer mit versteckten “Onion”-Services im Dark Net unterwegs, die sehr häufig für illegale Zwecke genutzt werden. Dabei würden unter anderem Darstellungen von sexuellem Kindesmissbrauch verbreitet, Drogen, Waffen und Identitäten verkauft oder erworben oder Geschäfte mit Schadsoftware gemacht.
In “freien” Ländern betrage der Anteil der illegalen Nutzung dieser “Hidden Services” 7,8 Prozent gegenüber 6,7 Prozent in Ländern mit “teilweise freien” und 4,8 Prozent mit autoritären Regierungen.
Daten von Eingangsknoten ausgewertet
Die Wissenschaftler haben zu dem Zweck von Ende 2018 bis Mitte August 2019 ein Prozent der Eingangsknoten im Tor-Netzwerk betrieben und dabei Daten erhoben. Dabei haben sie nach eigenen Angaben eine Zufallsstichprobe aller Nutzer des Tor-Relais beobachtet.
Über die Analyse eindeutiger Signaturen wie das Nachschlagen in speziellen Verzeichnissen differenzierten die Forscher, ob die Clients Tor nutzten, um gängige Angebote im offenen Internet (Clear Web) oder einen versteckten Dienst im Dark Net zu besuchen.
Daraus lasse sich noch nicht der genaue Inhalt erkennen, den ein Anwender nachfrage. Au0erdem lokalisierten die Wissenschaftler die Nutzer anhand der IP-Adressen, aggregierten diese Daten dann nach Land und Tag und nach “Hidden Services”-Nutzern.
The Hidden Wiki – Wegweiser ins Dark Net
Zu diesen Verzeichnissen gehört zum Beispiel als beliebter Startpunkt im Dark Net das verborgene „The Hidden Wiki“, das wegen der kryptischen URLs der Dienste gerne als Startpunkt genutzt wird.
Hinweis: Sie erreichen die Seiten nur mit dem Tor-Browser – mit Chrome, Firefox & Co. funktioniert das nicht…
Ergebnis: Überwiegend werden illegale Angebote genutzt
Die Forscher sehen die These, dass der überwiegende Teil der versteckten Tor-Dienste mit illegalen Angeboten in Verbindung steht, als ausreichend belegt an. Ihre Befunde seien robust auch unter “Einbeziehung einer Vielzahl statistischer Kontrollverfahren”.
Allerdings räumen sie aber auch ein, dass dieses angenommene Muster nicht allgemeingültig sei. So böten zum Beispiel auch Facebook und die New York Times Angebote über Tor an, während andererseits auch im offenen Internet vielfach extremistische Inhalte und anderes illegales Material zu finden seien.
Mehrere empirische Untersuchungen haben nach der Studie aber auch das schnelle Wachstum von “Kryptomärkten” für Drogen im Darknet dokumentiert. Der Administrator des 2013 ausgehobenen Silk-Road-Marktes, Ross Ulbricht, habe zwar früher einmal einen politischen Buchclub dort gehostet, aber solche politischen Dimensionen hätten jedoch im Laufe der Zeit deutlich abgenommen.
Die Ergebnisse der Analyse bestätigen laut den Verfassern, dass “Technik zur Gewährleistung der Anonymität wie Tor eine klare Herausforderung für die Politik darstellen und einen klaren politischen Kontext und geografische Komponenten beinhalten”. Diese besondere Herausforderung kennt man schon aus der Literatur als das “Dark Web Dilemma”.
Schaden und Nutzen des Tor-Netzwerks
Ein großer Teil der rund 6250 freiwillig betriebenen Tor-Knoten seien in demokratischen Ländern angesiedelt. Das Kernprojekt selbst trägt ein Verein in den USA vor allem mit Ressourcen der US-Regierung.
Insgesamt laufe die Infrastruktur überwiegend in “freien” Ländern. Das bedeute aber auch, dass dort der ermittelte “Schaden” für die Gesellschaft relativ groß sei. Hingegen werde der Nutzen von Tor ganz besonders in stark repressiven Regimen fassbar.
Es gebe grundsätzlich viele legitime Zwecke für den Einsatz des Anonymisierungsnetzwerks, weshalb es – abgesehen von technischen Schwierigkeiten – keine gute Lösung wäre, die Tor-Server einfach zu schließen.
Isabela Bagueros, die Geschäftsführerin des Tor-Projekts, wies die Grundannahme der Forscher gegenüber dem Online-Magazin Ars Technica als falsch zurück.
Viele beliebte Webseiten, Werkzeuge und Dienste wie auch die Deutsche Welle bauten auf verborgene Dienste, um ihren Nutzern dadurch mehr Datenschutz zu bieten. Sie gestatteten es ihnen damit zudem auch, die Zensur zu umgehen. Und das gelte unter anderem auch für Whistleblowing-Plattformen, Filesharing-Instrumente, Messenger- und E-Mail-Dienste und freie Softwareprojekte.
“Den Verkehr zu diesen weitverbreiteten Websites und Diensten als ‘illegal’ abzuschreiben, ist eine Verallgemeinerung”, durch die viele Menschen und Organisationen beim Schutz ihrer Grundrechte “verteufelt” werden, unterstrich Bagueros. In einer Welt des zunehmenden globalen Überwachungskapitalismus und der Internetzensur sei die Privatsphäre im Internet ein immer wichtigeres hohes Gut. Außerdem reiche die in dem Papier beschriebene Methode nicht wirklich aus, um die Studie vollumfänglich einschätzen zu können.